
Im Haus der Familie Trauffler stand lange Jahre ein aus dunklem Holz geschnitzter Wanderstab »als Dekorationsobjekt herum, und zumeist auch im Wege«, wie José Trauffler sagte, als sie den Stab vor vier Jahren dem Luxemburger Literaturarchiv anvertraute. Ihr Vater, René Trauffler, war als junger Mann im KZ Sachsenhausen interniert worden, von wo aus er gegen Kriegsende einen Todesmarsch durch Brandenburg mitmachte, den er in seinem Tagebuch festhielt.
Erst nach dem Tode Traufflers sah sich die Tochter die Inschrift auf dem Stab genauer an. ›Camp Buschowitz 9. Mai 1945‹ war dort zu lesen. Weder Traufflers Aufzeichnungen noch sein zweibändiges Werk Freiwëllegenkompanie 1940-1945, das er 1980/1986 gemeinsam mit Louis Jacoby verfasste, erwähnen ein Lager dieses Namens. Nach ihrem Marsch durch Brandenburg waren die ehemaligen KZler im April 1945 in dem kleinen Dorf Grabow unweit der heutigen Gedenkstätte ›Todesmarsch im Belower Wald‹, gestrandet. Die Flüchtenden fanden Unterschlupf in Scheunen, Trauffler kümmerte sich mit einem Kameraden um die vielen Kranken und Geschwächten. Manche Namen notierte er in der Hoffnung, dass die Angehörigen eines Tages so erfahren würden, was mit ihren Lieben passiert war: »Maria ist Tb-krank, Ceta Jüdin, 18 Jahre alt und von den Eltern in Ravensbrück getrennt worden, Radajka Prostic, 17 Jahre, ist Bauerstochter aus Ada, alle drei sind als Partisaninnen eingeliefert worden.« (30.04.1945)
Am 2. Mai zog die Sowjetarmee ins Dorf ein. »Alles was laufen kann rennt hin und jubelt den Soldaten zu, alle schreien, Russen und Ukrainer singen Partisanenlieder. Die Autos halten einen Augenblick an, die Soldaten verteilen Brot und Suppe aus den Feldküchen, einige reichen Zigaretten und Tabak. Der Jubel will kein Ende nehmen.«
Am eingravierten Datum, dem 9. Mai 1945 – heute vor 80 Jahren –, machte René Trauffler den letzten Eintrag in sein Tagebuch. Sowjetische Sanitäter hatten die Pflege der Kranken übernommen und wenn Trauffler auch »mit Mischka und Nikolaj etwas von dieser bizarren Sprache gelernt hatte«, so war seine Hilfe doch nicht länger unentbehrlich und er schrieb: »Mich drängt es immer mehr nach Hause.«
Handelt es sich beim ›Camp Buschowitz‹ vielleicht schlicht um das Dorf Grabow? Ein dem Tagebuch beigefügtes Blatt zeigt jedenfalls, dass Trauffler und sein Kamerad am Pfingstsonntag, dem 21.05., immer noch dort waren. Im Belower Forst suchten sie ein letztes Mal vor dem Aufbruch Ruhe und Einkehr. Trauffler schreibt: »Was ist Leben anderes als neues Beginnen, vorwärts schreiten mit Zuversicht und frischem Mut. […] Morgen, mit den ersten Sonnenstrahlen, ziehen wir ab, Richtung Heimat.«
Der Wanderstab mit dem kunstvoll verzierten Männerkopf wird im Tagebuch nicht erwähnt. Womöglich bekam er ihn in Grabow geschenkt. Trauffler dachte nach dem Krieg mit Dankbarkeit an die russischen Befreier zurück und sang gerne mal mit dem Botschafter der Sowjetunion russische Lieder, wie seine Tochter sich erinnert. Vielleicht hat Trauffler den Stab auch auf dem Rückweg selbst geschnitzt. Wie dem auch sei, der Gegenstand ist auf jeden Fall ein schönes Symbol für den Mut, mit dem viele Luxemburger KZler, Zwangsarbeiter und -rekrutierte in jenem Frühling vor 80 Jahren die Heimreise nach Luxemburg durch das kriegsverwüstete Deutschland angingen.
Sandra Schmit
Illustration:
Wanderstab von René Trauffler. Länge: 90 cm. L-096; IV.5.1.