Objet du mois, septembre 2025

»Dernière coulée« – Rote Erde und rostende Träume bei Gast Rollinger

Rote Erde und rostende Träume bei Gast Rollinger

 

»Dernière coulée« ist die Bezeichnung für den symbolischen letzten Guss von Roheisen in einem Hochofen. Im Terre-Rouge-Werk von Esch/Alzette fand der finale Schwall glühender Schlacke im Juni 1977 statt, womit dort nach über 100 Jahren die Feuerschmelze endete und der Ausklang der Hochöfenära im luxemburgischen Südrevier eingeleitet wurde. Selten ist sind Sammlungsobjekte eines Bestandes derart mit dem Werk des Bestandsbildners verbunden wie der vorliegende Roheisenklotz aus Gast Rollingers Besitz, dessen Nachlass jüngst an das Centre national de l‘audiovisuel sowie das Centre national de littérature ging. Denn: Als Chronist der Minetteregion bediente sich Rollinger den Medien des Films und der Literatur, um die Escher Industrie- und Naturlandschaft sowohl sachlich zu dokumentieren als auch ästhetisch zu überhöhen – ohne dabei die negativen Aspekte zu beschönigen.

 

Die rote Erde stellt sowohl Rohstoffbasis als auch kulturelles Zeichen des durch Montanwirtschaft geprägten Minetter Landschaftsbildes dar. In Rollingers Werk wird sie zum Ausgangspunkt für existenzielle Fragen nach Herkunft, Identität und Vergänglichkeit. Eigene Filme wie D’Sälerbunn, D’Schmelz, D’Minettsbréck  oder Cockerill setzen architektonische Zeitzeugen als Kulturerbe in Szene und reflektieren wehmütig ihren Verfall. Hervorzuheben ist daneben insbesondere die Zusammenarbeit mit Fernand Barnich, etwa beim Theaterstück De Gaalgebierg, den Dokumentationen Déi lescht Schicht und E Bauer am Minett sowie den Poesiefilmen Steng um Wee und Texter aus dem Minett. Es sind Werke, welche den Bergleuten, Schmelzarbeitern oder Landwirten eine Stimme geben wollen. Mit der prämierten Verfilmung von Anne Blanchot-Philippis Gedicht Mon pays wird ferner das Selbstverständnis des ›Minettsdapps‹ gewürdigt: »Mais moi, je ne suis moi, que dans ce pays-là!«

 

In seiner Gedichtsammlung Dobannen & dobaussen setzt Rollinger gekonnt rhetorische Techniken ein.

»Mat Gesouer, mat Geklécker

as se duurch déng Dräm gefuer«

D’Sälerbunn wird zu einer onomatopoetischen Feier auf das geradezu symbiotische Verhältnis zwischen dem Sound der Maschine aus Eisen und dem Lebensalltag der Menschen, den sie wie ein gutes Omen taktet. Im Rückgriff auf Bertolt Brechts Lyrik illustriert das programmatische E Gespréich iwwer Bäm, wie Landschaftsbeschreibungen in Gedichten jedoch nicht nur zur atmosphärischen Untermalung, sondern unterschwellig auch als Träger sozialkritischer Beobachtungen dienen. Wou ech wunnen problematisiert dementsprechend den durch die Stahlkrise der 1970er ausgelösten wirtschaftlichen Umbruch, indem es verlassene Fabrikbrachen personifiziert und so die stillgelegten Hochöfen mit der Identitätskrise der Anwohner metaphorisch verschränkt:

            »Ma niewent de Schinnen, do schnaddert d’Gemaier,

well d’Zäite si kal, an den Uewen ass aus.«

Die Sprachbilder in Zone industrielle werfen einen vergleichsweise melancholischen Blick auf die Dekadenz von neumodernen Industriegebieten in Zeiten des Kapitalismus.

            »en eidle Käddi op dem Feld

            ass dat, wat bleift vun eiser Welt«

Der Einkaufswagen, aus verarbeitetem Gusseisen gefertigt, steht als ambivalente Chiffre einer jüngeren Industriekultur, die den natürlichen Ursprung des Materials tilgt und in ein Objekt konsumistischer Leere überführt, wodurch sich zugleich eine Kritik an der Entfremdung von Natur und an den Auswüchsen kapitalistischer Warenlogik manifestiert. Rollingers volksliedhafte Minettelyrik oszilliert letztlich zwischen poetischer Sublimation und apokalyptischem Abgesang.

 

Tim Reuter

 

 

Illustration:

»Dernière coulée. Juin 1977. HF. Terre Rouge« – Roheisenguss der ehemaligen Escher »Brasseur«-Schmelz. 16,4 cm x 7,1 cm x 2,7 cm. 1,944 kg. CNL, Bestand Gast Rollinger, L-292. Foto: Ludivine Jehin & Tim Reuter.

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