In der Geschichte der Luxemburger Literatur gibt es manchen Autor, bei dem literarisches Schreiben und politisch-ideologisches Engagement zu einem einzigen Kontinuum zusammenfließen. Diese Ein-Stimmigkeit lässt sich auch bei Pierre Grégoire (1907-1991) beobachten. Ein zentrales Anliegen im Wirken des Schriftstellers, Journalisten, CSV-Politikers und Europa-Abgeordneten war die Apologie eines katholisch fundierten ›Abendlandes‹. Literarisch wurde dies u. a. in den Traktaten Die Gnadenstunde des Abendlandes, Rot sind die Reiter der Apokalypse (beide 1950), Europa zwischen Angst und Hoffnung (1970) und Der Übergang des Abendlandes (1977) sowie, fiktional aufbereitet, in der Romantrilogie Europäische Suite (1951-1952) realisiert.
Bedenkt man, dass kollektive Identitäten durch den Ausschluss des ethnisch, kulturell und sprachlich Anderen gebildet werden, ist es lohnend, der Frage nachzugehen, wie Grégoire das Konstrukt eines antieuropäischen ›Ostens‹ entwirft, in Opposition zu dem sich der ›Westen‹ als eigentliches und einziges Europa definieren kann. Als (Wort-)Schöpfung des 19. Jh. adressiert die Bezeichnung ›Osteuropa‹ keine geografische Gegebenheit, sondern spiegelt vielmehr das gewandelte Bewusstsein des Westens nach der Neukartierung des Kontinents infolge des Wiener Kongresses (1815) wider. Bis dahin wurden slawische Völker dem Norden zugewiesen, was die Schaffung von Kontinuitätslinien zu ›barbarischen‹ Stämmen der Spätantike, die Verbindung mit Attributen wie Finsternis, Kälte und bestimmten Tieren (dem ›russischen Bären‹) sowie den Rekurs auf die alttestamentliche Identifizierung des Nordens als Sitz des Bösen ermöglicht hatte. Die Vorstellung von Wildheit und Bedrohlichkeit erhielt zusätzliche Schubkraft, als der Orient-Begriff, durch die Auseinandersetzungen der europäischen Mächte mit dem Osmanischen Reich schwer belastet, auf Russland übertragen wurde. Die so entstandene Idee von der Andersartigkeit des Ostens wurde durch den antibolschewistischen Furor der Zwischenkriegszeit und die Blockbildung des Kalten Krieges weiter zementiert.
Aus den Beständen dieses Herrschaftswissens (Max Scheler) schöpfend, entwickelt Rot sind die Reiter der Apokalypse das Narrativ eines animalisch-antihumanen, dem Westen kognitiv, kulturell und sittlich unterlegenen Osteuropa. Die begriffliche Ausdehnung des Orients erlaubt dem Verfasser, diesem locus terribilis vermeintlich asiatische Eigenschaften wie Despotie, Grausamkeit, Irrationalität und einen Hang zur Unordnung zuzuweisen; die Assoziation mit Horden, Scharen und Schwärmen sowie die Poetik einer schier endlosen flachen Landschaft verstärken ihrerseits den Eindruck der Alterität. Von Ignoranz und blindem Hass gegenüber abendländischen Werten getrieben, ergießen sich, so Grégoire, die »Idioten aus dem Osten« einer »rote[n] Flut« gleich über Europa, um es in eine asiatische Peripherie umzuwandeln. Dies sei, dahingehend das Kapitel Im Osten nichts Neues, nichts anderes als eine Neuauflage der mittelalterlichen Mongolenstürme. Mit der Dämonisierung der Sowjetunion und ihrer Führer, die als Nachfolger der mongolischen Großkahne porträtiert werden, schreibt sich das Buch unmissverständlich in die lange Tradition der eschatologischen Deutung der mongolischen Expansion (Stichwort Gog und Magog) ein. Sowohl die Titelgebung als auch die dazu passende Illustration des Einbands aus der Hand eines unbekannten Grafikers erhalten im Lichte solcher Verstrebungen ihre volle Aussagekraft.
Daniela Lieb
Erio [= Grégoire, Pierre]: Rot sind die Reiter der Apokalypse. Luxemburg: Sankt-Paulus-Druckerei 1950.