Objet du mois, juillet 2024

»Ausstrahlen, und zwar nicht nur weltweit, sondern universell.«

Zum Wert eines Buchs wie Thomas Bernhards »Frost«
©Jean Meder

Nach ihrer idealen Bibliothek gefragt, nennt Anise Koltz in einem Artikel von 2013 u. a. Thomas Bernhards Debütroman Frost, dessen Entstehungsgeschichte eng mit den ersten Mondorfer Dichtertagen von 1962 verknüpft ist. Vor dem John-Grün-Monument kam es während des internationalen Treffens zur Abmachung, einen Roman zu veröffentlichen, was der Niederschrift einen nachweislichen Schub verlieh. Aus Dank für die Einladung setzte Bernhard den Organisator:innen René und Anise Koltz ein literarisches Denkmal, indem ›Koltz‹ in Frost als der Autorenname eines fiktiven Standardwerks der Medizin erscheint. Unter der Signatur BIHO-1 bewahrt das Centre national de littérature ein jüngst erworbenes Exemplar der Erstausgabe auf, das sich in der Privatbibliothek des Mondorfer Mitorganisators und Schriftstellerfreunds Horst Bingel befand.

 

Für Thomas Bernhard bedeutete die Publikation von Frost nichts Geringeres als den literarischen Durchbruch und die Festigung seiner freien Autorschaft. Im Mai 1963 im Insel Verlag erschienen, löste der Roman bei der Kritik eine Welle der Begeisterung aus, die dem Österreicher die Zuerkennung des Hamburger Julius-Campe-Preises (1964) sowie des Literaturpreises der Freien und Hansestadt Bremen (1965) einbrachte. Für Werbezwecke druckte der Verlag eine kleine kartonierte Sonderauflage von Leseexemplaren, von denen Bernhard einige auch an Mondorfer Kolleg:innen schicken ließ. So gelang das vorliegende Exemplar in den Besitz Bingels, der im selben Jahr 1963 und auch beim Insel Verlag sein Buch Die Koffer des Felix Lumpach veröffentlichte. Heute wird die Erstausgabe des Kultbuchs in Antiquariaten hoch gehandelt.

 

Für die Luxemburger Literaturszene hat Frost eine dreifache Bedeutung: Einerseits konnte die Mondorfer Literaturtagung aufgrund der Geschichte um diese Veröffentlichtung im Laufe der Jahre viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, hat sie doch Anise Koltz den Ruf eingebracht, eine Art literarischer ›Talentscout‹ zu sein. Weitreichender sind, andererseits, die Spuren, welche die im Roman vorkommenden literarischen Neuerungen in der hiesigen Literatur hinterlassen haben. Persönlichkeiten wie Léopold Hoffmann, Roger Manderscheid, Lambert Schlechter, Nic Weber, Michel Raus u. v. m. wurden nachhaltig von Bernhards Sprachstil beeinflusst. Schlagworte wie Antiheimatliteratur, Fragmentismus, Sprachskepsis oder Erkenntniskritik können mit der Rezeption seines Werks in Verbindung gebracht werden. Drittens sind auch im Fall Bernhard die Sprachkenntnisse der Luxemburger:innen als ein klarer Standortvorteil anzusehen. Dazu gehört der Beitrag, den Josée Turk-Meyer für die damit beginnende Rezeption des Österreichers in Frankreich geleistet hat. Unter dem Titel Gel erschien 1967 bei den Éditions Gallimard die von ihr mitbesorgte Übersetzung des Romans – die erste Publikation des Autors auf Französisch. Dennoch ist die bereits 1970 verstorbene Luxemburgerin in ihrem Heimatland ein bislang unbeschriebenes Blatt. Bernhard bemaß die Bedeutung von Literatur nicht ohne Ironie daran, weltweit und universell ›auszustrahlen‹. (vgl. Krista Fleischmann: »Die Ursache bin ich selbst«, 1986) Ohne die oft übersehene Leistung seiner Übersetzer:innen kann sich ein in rund 50 Sprachen übertragener Schriftsteller, der selber eigentlich nur das Deutsche beherrschte, allerdings nicht zur Weltliteratur zählen.

 

Tim Reuter

 

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