Seit den 1960er Jahren finden in Mazedonien im August die Abende der Poesie von Struga statt, ein internationales Lyrikfestival, an dem im Laufe der Zeit auch zahlreiche Luxemburger Dichter teilgenommen haben. 1992 war dabei ein besonderes Jahr, denn unter dem Titel Sovremena luksemburška poezija / Letzeburger Poesie haut galt die alljährlich dort publizierte Anthologie diesmal der Lyrik aus Luxemburg, und zu deren Vorstellung war, im Gegensatz zu anderen Jahren, eine ganze Delegation, bestehend aus Nic Klecker, Anise Koltz, Michel Raus und Léon Rinaldetti, angereist. Auch aus mazedonischer Sicht war das Jahr ein spezielles, handelte es sich doch um das erste Mal, dass das Treffen nicht mehr in Jugoslawien, sondern in der seit Ende 1991 unabhängigen Republik Mazedonien stattfand.
Die besondere Verschränkung von Dichtung und Politik in jenem Jahr deuten die nebenstehenden, quasi identischen Fotos aus unterschiedlichen Beständen des CNL an. Sie zeigen drei der luxemburgischen Repräsentanten, wie sie vom Leiter des Festivals, Boris Vishinski, dem ersten Staatspräsidenten der Republik Mazedonien Kiro Gligorov vorgestellt werden. Literatur und politische Aktualität waren beherrschende Themen auch in den Texten und Radiosendungen des Kulturjournalisten Michel Raus im Umfeld der Tagung, wie Dokumente in seinem Nachlass im CNL zeigen. So etwa sinnierte er in seiner Einführung zum Luxemburg-Abend im Hotel Drim über die Gleichzeitigkeit des Lyrikfestivals mit dem in anderen Teilrepubliken Ex-Jugoslawiens wütenden Krieg, ein Motiv, das wenige Wochen später in einer Sendung seiner RTL-Reihe Frequenzen unter dem Titel Poesie oder Biergerkrich wieder aufgegriffen wurde.
Der jungen Republik Mazedonien ihrerseits, die Gligorov ohne Blutvergießen in die Unabhängigkeit geführt hatte, bot das prestigeträchtige Festival eine Gelegenheit, die Agenda der internationalen Anerkennung voranzutreiben. Neben dem Empfang der Autoren beim Staatspräsidenten war etwa die Augustnummer der Struga International Poetry Review, die im Bestand Léon Rinaldetti des CNL eingesehen werden kann, in Teilen diesem Thema gewidmet. Sie enthielt u.a. die auf den 15. Juni 1992 datierte Erklärung Les poètes luxembourgeois et la reconnaissance de la République de Macédoine, zu deren Unterzeichnern neben den vier schon erwähnten Autoren auch René Welter und Jean-Michel Treinen gehörten. Während des Festivals selbst zirkulierte eine Petition zugunsten Mazedoniens, deren Wortlaut mehrfach revidiert wurde, wobei Nic Klecker eine Rolle spielte, wie Michel Raus in einem Artikel im Journal (aus dem das Titelzitat des vorliegenden Beitrags stammt) und Léon Rinaldetti in einer mündlichen Mitteilung berichten. Klecker war zudem Teilnehmer an einer zweiten vom Strugaaufenthalt angeregten Frequenzen-Sendung (Februar 1993), in deren Mittelpunkt die Identität Mazedoniens als Sprach- und Kulturnation stand.
Auf einer anekdotischen Ebene bemerkenswert ist schließlich, dass es sich, nach Léopold Hoffmanns Erfahrung, der 1980 auf einer PEN-Tagung in Slowenien von der Nachricht von Titos Tod überrascht wurde (s. Objet du mois, März 2022), bei den 1992er Abenden der Poesie um das zweite Mal handelt, dass Luxemburger Autoren auf Schriftstellertreffen in Ex-Jugoslawien Zeugen bedeutender Episoden in der Geschichte dieses Landes wurden.
Bildlegende:
Von oben nach unten: Léon Rinaldetti, Anise Koltz und Michel Raus mit Boris Vishinski (Mitte) und Kiro Gligorov (l.). CNL, Bestand Léon Rinaldetti, L-272; CNL, Bestand Anise Koltz, L-42; CNL, Bestand Michel Raus, L-177.
Pierre Marson