Der Schriftsteller und Kunstkritiker Joseph-Émile Muller setzte sich ab 1945 als Leiter der neugegründeten Abteilung Service d’éducation esthétique des Nationalmuseums für Geschichte und Kunst (MNHA) in Luxemburg und später als Leiter des Service des Beaux-Arts insbesondere für luxemburgische Künstler wie Kutter, Probst oder Wercollier ein. Darüber hinaus wurden seine Monographien über Maler wie Cézanne, Gauguin oder Estève, seine Beiträge zu Ausstellungen im In- und Ausland sowie eine Artikelreihe über Paul Klee für die Zeitschrift Critique auch in der ausländischen Kunstszene rezipiert.
Muller verstand es, in seinen Texten die Eigenart eines Künstlers herauszuarbeiten. Seine Begeisterung für die Kunst der Moderne und seine guten Beziehungen nach Frankreich ermöglichten ihm, zeitgenössische Werke der École de Paris, wie etwa Bilder und Collagen von Maurice Estève, für das Luxemburger Museum zu erwerben oder auszuleihen. In einem frühen Brief an Muller von Mai 1949 zeigte sich Estève darüber erfreut, durch den Verkauf seines Werks Rencontre erstmals in Luxemburg vertreten zu sein. (L-188; II.1-28) Aus der anfangs beruflichen Verbindung zwischen Estève und Muller wurde eine lebenslange Freundschaft, die durch den im Centre national de littérature erhaltenen Briefwechsel ausführlich dokumentiert wird. Von 1949 bis 1994 tauschten sich der französische Künstler und sein luxemburgischer Kritiker in über 230 Briefen und Postkarten über Malerei und Kunst, aber auch über ihre Reisen und Alltagssorgen aus. So kam es, dass das französische Verlagshaus Hazan, wo Muller 1956 sein erstes Buch Le Fauvisme veröffentlichte, ihn für die Serie ›Peintres d’aujourd’hui‹ mit der Abfassung der Biographie Estèves beauftragte. Estève, der die Expertise und Sorgfalt, mit der Muller seine Kritiken verfasste, sehr schätzte, war erfreut über diese Entscheidung und schrieb in seinem Brief vom Dezember 1960: »Cher Monsieur Muller, je me réjouis de penser que – grâce à vous, nous serons réunis dans le même coffret cartonné, vous et moi: texte et couleurs.« (L-188; II.1-48) Der »coffret cartonné« bezieht sich auf die außergewöhnliche Aufmachung des Buches Estève, das in Form eines Schubers vorliegt. In diesem Schutzkarton werden zwölf farbige Reproduktionen von Werken Estèves sowie das sechsseitige Vorwort von Joseph-Émile Muller zusammen aufbewahrt.
Am 12. April 1986 gab die französische Post eine Sammelpostkarte mit Bedarfstempel von Estèves Ölgemälde Skibet – 1979 heraus. Estève schickte diese noch am Erscheinungstag an seinen Freund in Luxemburg. Muller war begeistert von der Briefmarke: »Quel beau timbre. Merci, merci. […] ce timbre est rayonnant.« (L-188; II.1-235) Das Wort Skibet kommt aus dem Skandinavischen und bezeichnet ein Segelschiff der Wikinger. Kennzeichnend für den Künstler Estève sind die leuchtend intensiven Farben und die Formen, die das Objekt nur erahnen lassen. Das Originalwerk Skibet sowie weitere Werke von Estève sind im gleichnamigen Museum in Bourges, Frankreich, zu sehen.
Der Briefwechsel zwischen den beiden Künstlern endete Anfang der Neunziger Jahre. In seinem letzten Brief vom 28. September 1994 schrieb Muller an Estève, seine Sicht werde immer schlechter, er könne Feinheiten wie Gesichter sowie die Subtilität in Bildern nicht mehr erkennen und Reisen seien ihm nicht mehr möglich. (L-188; II.1-251) Gegen Ende seines Lebens erblindete der Kunstkritiker mit dem scharfen Blick für die Einzigartigkeit eines Kunstwerkes vollständig.
Jeannette Cannivy
Abbildung: Frankierte Sammelpostkarte mit dem Werk Skibet von Maurice Estève, 1986. CNL, Bestand Joseph-Émile Muller, L-188; II.1-234.