Objet du mois, mai 2022

Willy Goergen und die ›siebenbürgische Frage‹

›Rue Willy Goergen‹ lautet der Name einer Straße im Herzen der Stadt Luxemburg, gefolgt von der Präzisierung ›poète luxembourgeois‹. Dass Goergen, der im Laufe seiner langen schriftstellerischen Laufbahn mehr als zwanzig Gedichtsammlungen veröffentlicht hat, vor allem als Lyriker bekannt ist, hat durchaus seine Richtigkeit. Unterdessen ist es interessant, auch weniger prominente Aspekte seines Wirkens in den Blick zu nehmen, etwa seine Teilhabe am Diskurs über die ›Urheimat‹ der Siebenbürger Sachsen.

 

Im 12. Jahrhunderts lassen sich Zuwanderer aus dem westlichen Teil des Heiligen Römischen Reiches in Siebenbürgen nieder; dort entwickeln sie eine gemeinsame ethnische und sprachliche Identität. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts geraten die ›Sachsen‹ zunehmend in den Fokus (erst ungarischer, dann rumänischer) nationalstaatlicher Assimilationsbestrebungen und verlieren ihre bisherige, weitgehende Autonomie. Darauf reagieren sie mit einer verstärkten Hinwendung zu ihrer Vergangenheit: Es entstehen Institutionen und Vereine, historiographisches Schreiben und Sprachforschung setzen ein.

 

Bereits der Luxemburger Jesuit François-Xavier de Feller stellt anlässlich einer Reise nach Siebenbürgen (1768) Ähnlichkeiten zwischen dem dortigen und dem heimatlichen Idiom fest. Später bewegt die romantische Vorstellung einer linguistisch-ethnischen Einheit Siebenbürger Sprachforscher, etwa Georg Friedrich Marienburg (1845) und Georg Keintzel (1885) dazu, das Herkunftsgebiet der Sachsen im moselfränkisch-luxemburgischen Sprachraum zu verorten. Besonders aktiv auf diesem Gebiet ist Keintzels Schüler Gustav Kisch. Entscheidende Impulse für seine Studien erhält er von Goergen, den er auf einem Germanistenkongress in Marburg/Lahn kennenlernt. Ihm verdankt er z. B. den Hinweis auf das häufige Vorkommen des Familiennamens Kisch in der Gegend von Grosbous. Bei einem Aufenthalt im Großherzogtum 1902 (vier weitere sollten folgen) findet tatsächlich ein Treffen mit verschiedenen Trägern dieses Namens statt. Ab diesem Zeitpunkt entwickelt sich zudem ein langanhaltender Briefwechsel mit Georgen, dem sich Kisch, wie ein Schreiben in Bistritzer Mundart aus dem Jahr 1904 zu verstehen gibt, sprachlich genauso wie ethnisch verbunden fühlt: »Och eich hun so ämfann, dat mîr nät nur desalf Sprôch rêdn, sondern och dat salf Harz, dat salf Blât än ansern Ôdern hu.« Diese Verbindung stärkt er auch dadurch, dass er Goergen zum Paten seines Sohnes bestimmt. Materialien aus dem im Merscher Literaturarchiv aufbewahrten Nachlass Goergens lassen vermuten, dass dieser 1908 zu einem Gegenbesuch nach Bistritz aufbricht. Einen »triumphalen Empfang« Goergens in Siebenbürgen erwähnt auch Batty Weber in seinem Abreißkalender vom 21. November 1937.    

 

Die Überzeugung einer Luxemburger Herkunft der Sachsen wird auch dann aufrechterhalten, als 1905 eine siebenbürgische Delegation die erwartete Sprachgleichheit in situ nicht bestätigen kann. Mehr noch: Die ›siebenbürgische Frage‹ entfaltet ihre Wirkung auch im Großherzogtum selbst und findet noch im Vorwort des Luxemburger Wörterbuchs (1950) Erwähnung. Sie erlebt 2007, als sich Luxemburg und Sibiu/Hermannstadt den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt teilen, eine Neuauflage. Das 2015 erschienene Buch Erfolgsgeschichte mit Folgen von Erna Hennicot-Schoepges mit einem Vorwort des aus der deutschen Minderheit stammenden rumänischen Präsidenten Klaus Johannis sowie sein Staatsbesuch im Großherzogtum 2016 setzen diese Faszination fort.  

 

Daniela Lieb

 

Schreiben Gustav Kischs an Willy Goergen vom 20. Dezember 1923. CNL, Bestand Willy Goergen, L-73.II.2.  

 

Text auf dem Verso:

»Lieber Freund, zu Weihnachten unser herzlicher Glückwunsch in der Hoffnung, 1924 unsere Urheimat doch noch einmal wiederzusehen. Als rum[änischer] Staatsbürger wird mir das doch gestattet werden!? Grüß Gott! Lebt wohl! Dein treuer G.K. 20.XII.23.«

 

Die Verunsicherung Kischs im Hinblick auf eine erneute Reise nach Luxemburg hängt mit dem Anschluss Siebenbürgens an das Königreich Rumänien (1918/1919) zusammen, wodurch die Siebenbürger Sachsen von ungarischen zu rumänischen Staatsbürgern werden.   

 

 

 

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