Das Künstlerbuch steht in der hiesigen Literaturszene in einer eindrücklichen Tradition. Von Emile Hemmen (Derniers tranchements) über Anise Koltz (Pomme) und José Ensch (L’arbre) hin zu Georges Hausemer (Glück des Vergessens) – die Zusammenarbeit von Autoren und Autorinnen mit Künstlern und Künstlerinnen aus den Bereichen Grafik, Malerei und bildende Kunst hat immer wieder zu üppig ausgestatteten Büchern geführt. Die livres d’artistes sind oftmals Raritäten, verlegt in kleinen Auflagen, gedruckt auf besonderem Papier, hergestellt in außergewöhnlichen Formaten. Und natürlich ist es bereits ein Fauxpas, bei solchen Gemeinschaftsprojekten immer nur die schreibende Seite zu nennen. Also: An Derniers tranchements hat François Schortgen mitgewirkt, an Pomme Stéphane Erouane Dumas, an L’arbre Mario Prassinos und an Glück des Vergessens Maurice Ney.
Auch die hier vorgestellten Planungsskizzen zu einem nie realisierten Künstlerbuch zeigen, wie sehr diese Kunstform von der artistischen Kooperation lebt. Das Gedicht mit dem Titel erlenwind hautauf hautab steuerte der Schriftsteller Carlo Thein (1925-1979) bei. Seine Verse lehnen sich an die Naturlyrik in der Nachfolge deutscher Dichter wie Wilhelm Lehmann an, zugleich ist ihnen eine spielerische Derbheit eingeschrieben: „oh der rauchigen frauenachseln, oh. / oh der toten sonnenuhren, oh der bäume. / drei tannen haben sich verschworen. müssen tuscheln.“ An der bibliophilen Gestaltung waren die Grafiker und Illustratoren Jeannot Bewing, Georges Fischer, Nico Kieffer, Roger Kieffer, Nico Thurm und Pierre Ziesaire mit sechs Originalgraphiken beteiligt.
Hinsichtlich der Ausstattung der Mappe, die im Centre national de littérature aufbewahrt wird, lässt sich festhalten: Hier liegt gewissermaßen ein Kunstwerk vor dem Kunstwerk vor. Auf schwerem rotem Kartonpapier ist mit schwarzem Stift eine angedeutete Landschaft aufgezeichnet; die abstrakten Probe-Grafiken, die sich quer und parallel seitwärts ziehen, variieren als Tupfer und Schrammen unterschiedliche Blau- und Orange-Nuancen; Vorder- und Rückseite der Mappe glänzen aluminiumhell. Die Planungen müssen kurz vor dem Abschluss gestanden haben, die Beteiligten hatten jedenfalls bereits ein Impressum aufgesetzt: Das livre d’artiste sollte 1971 in einer Auflage von hundert handschriftlich signierten Exemplaren erscheinen. Zusätzlich sollten zwanzig Exemplare, mit lateinischen Zahlen nummeriert, als Sonderausgabe angefertigt werden.
Die Magie des Unfertigen, die diese Archivalie umgibt, speist sich auch aus der Tatsache, dass wir wenig über ihre Entstehung und über ihr letztliches Scheitern wissen. Zurück bleibt ein Dokument, das einen seltenen Einblick in die Prozesshaftigkeit und Kooperativität erlaubt, zwei Aspekte, die das Entstehen von Kunstwerken mitsteuern, aber selten Erwähnung finden. Es geht hier auch darum, wie viel weißer Rand links und rechts des Textes eingezogen werden soll. Bleistiftskizzen legen dar, wie sich das Buch nachher aufklappen lässt und inwiefern die innersten Seiten sich wegen der Bindung weniger gut einsehen lassen. Über so ziemlich alles machten sich die bibliophilen Künstler bei diesem Projekt Gedanken. Schade, dass es nicht zur Finalisierung gelangte. Die Skizzen zum Künstlerbuch sind Teil des Nachlasses (L-78) von Carlo Thein, der Anfang 2020 im Haus aufbereitet und archiviert wurde.
Samuel Hamen