Alma Vizla wird 1915 in Lettland geboren. Bereits in frühem Kindesalter beginnt sie in der Hauptstadt Riga eine Ballettausbildung bei Beatrise Vignere, einer ehemaligen Schülerin Isadora Duncans. Anschließend ist sie bis Anfang der 1930er Jahre beim Ballett der Lettischen Nationaloper tätig; einige Fotografien legen nahe, dass sie auch in einer modernistischen Tanzgruppe wirkt. Um 1933 wendet sich Alma der Akrobatik zu. Spätestens 1938 tritt sie, nach Mitarbeit bei einigen Wanderzirkussen, als Kunstreiterin beim renommierten Zirkus Salamonsky auf, der neben den Standorten Moskau und Odessa auch in Riga eine stationäre Spielstätte unterhält. Bald jedoch gibt sie das Kunstreiten zugunsten der Luftakrobatik auf. Nur wenige Jahre später wird man sie als ›Fliegender Stern‹ und würdige Nachfolgerin der 1931 verunglückten, als unerreichbar geltenden Lillian Leitzel feiern.
Am Zirkus Salamonsky lernt Alma, vermutlich Anfang 1938, Alberto Piaia kennen. Der Franko-Italiener mit familiären Bindungen nach Ettelbrück ist seit den 1920er Jahren mit seinen Equilibristik- und Kraftnummern in ganz Europa unterwegs. 1939 schließlich, nach Aufenthalten in Basel, Nizza und Cannes, trifft Alma in Luxemburg ein, um ein Engagement in der für künstlerische Darbietungen bekannten Brasserie des hauptstädtischen Hotels Alfa anzutreten. Ende des Jahres heiraten Alma und Alberto im schwedischen Malmö. Das Paar verbleibt bis 1946 im skandinavischen Raum, hauptsächlich in Dänemark und Norwegen.
Mit dem Kriegsende beginnt für Alma, die nun weltweit in den angesehensten Zirkus-, Varieté- und Vergnügungshäusern auftritt, die Zeit ihrer größten Erfolge. Eine wichtige Station ihrer Laufbahn markiert ab 1949 der Vertrag bei Ringling Bros. and Barnum & Bailey, dem damals größten Zirkusunternehmen der Welt, mit dem sie und Alberto alle Bundesstaaten der USA bereisen. Mitte der 1940er Jahre geht sie, auf der Suche nach größerer künstlerischer Freiheit, von der Arbeit am Trapez zu derjenigen am freischwebenden Vertikalseil über. Hier gelangen die Vorzüge ihrer tänzerischen Ausbildung vollends zur Geltung, so dass die berühmte Ballerina Margot Fonteyn nach einer Vorführung mit der Feststellung an sie herantritt: »Nicht wahr, Sie sind Tänzerin?« Als Seilkünstlerin beteiligt sich Alma auch am Dreh des monumentalen Zirkusfilms The Greatest Show on Earth von Cecil B. DeMille (1952). Insgesamt wirkt sie in fünf Produktionen mit; in Trapeze (1956, Regie Carol Reed) doubelt sie keine geringere als den Weltstar Gina Lollobrigida.
Nach dem Rückzug aus der Manege Ende der 1960er Jahre gründen Alma und Alberto Piaia in ihrer Wahlheimat Ettelbrück die erste und damals einzige Artistenschule des Großherzogtums. Dort führen sie nicht nur Kinder und Jugendliche in die Schwierigkeiten der Luftakrobatik ein, sondern auch Tänzer, Schauspieler und Sänger, die sich als »Stars in der Manege« bei der gleichnamigen Wohltätigkeitsveranstaltung für den guten Zweck in die Höhen der Zirkuskuppel wagen.
2018, zwei Jahre nach Almas Tod, wird ein Teil ihres Nachlasses dem Centre national de littérature anvertraut. Dazu gehört das 21 x 17 cm große, in rotes Saffianleder gebundene Goldene Buch der Artisten, das Einträge aus der in Skandinavien verbrachten Zeit des Zweiten Weltkriegs enthält. Die Wahl dieses Dokuments zum ›Objekt des Monats Juni 2020‹ illustriert die verstärkte Hinwendung des Literaturarchivs zu den szenischen und artistischen Künsten sowie sein Interesse an der Erforschung von kulturellen Körperpraktiken und Körperdiskursen.
Daniela Lieb
Das Goldene Buch der Artisten Alma und Alberto Piaia; aufgeschlagen ein Eintrag über Darbietungen in Oslo, erste Hälfte des Jahres 1944. Foto: Marc Siweck.
CNL L-403 Bestand Alma Piaia.
Bühnenporträt der Luftakrobatin Alma Piaia, 1940er Jahre. Foto: Cosy Studio.
CNL L-403 Bestand Alma Piaia.