Der Nachlass des luxemburgischen Lyrikers Jean Krier (*02.01.1949 – †12.01.2013) wurde im Dezember 2018 dem Literaturarchiv in Mersch übergeben und ist nunmehr unter der Bestandsnummer L-405 in insgesamt neun Archivkästen verzeichnet. Drei von diesen Kästen beherbergen Manuskripte, Typoskripte und Gedichtvorbereitungen sowie unveröffentlichtes Material. Darunter befindet sich Kriers Notizblock von 2010, in dem er Gedichte für seinen fünften Gedichtband vorbereitete, den er leider zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlichen sollte. Michael Braun publizierte eine Auswahl von Gedichten aus dem Nachlass im Band Eingriff. Sternklar (Poetenladen, 2014).
Anhand dieses Notizblocks lässt sich Kriers Arbeitsweise beschreiben. An Gottfried Benn anlehnend, vertritt Krier die Position, dass ein Gedicht nicht einfach entsteht, es werde gemacht. Eine markante Eigenheit von Kriers Lyrik ist die akribische Arbeit an Form und Sprache: Er sammelte Material (einzelne Worte, Zitate, Wendungen oder auch ganze Verse), das er dann zu einem Gedicht zusammenbaute. Er knüpfte die einzelnen Elemente, ähnlich einem Flickenteppich, zusammen und arbeitete so lange an einem Gedicht, bis es ihm gefiel. Kriers Gedichte weisen aufgrund der integrierten Zitate einen intertextuellen Charakter vor. Die Quelle dieser Zitate gab Krier in seinen handschriftlichen Fassungen linksbündig des Verses an und in den Typoskriptfassungen rechtsbündig. Diese Eigenheit wurde nie in der finalen Publikation berücksichtigt, die Zitate wurden dort lediglich durch Kursivierungen hervorgehoben. Ein weiteres Merkmal seines Spätwerkes ist der Rückgriff auf die alkäische Ode. Diese zeichnet sich durch spezifische Anordnungen von betonten und unbetonten Silben in einer rhythmisch festgelegten Abfolge von Versen aus und beschwört einen feierlichen Ton, der mit Kriers von Alltagssprache und brutalen Ellipsen geprägten Lyrik kollidiert. Kriers Gedichte sind als freie Adaptionen der alkäischen Odenform zu verstehen, indem er die rigide Strophenform der Ode auflöst, so dass der Leser die vier Verse nicht mehr als eigene Strophe erkennt.
Das Gedicht Doux matou tout roux ist ein hervorragendes Beispiel für die Metamorphosen der Textgestalt bei Jean Krier. Sowohl bei der Arbeits- wie bei der Druckfassung handelt es sich um frei-rhythmische Langverse, anlehnend an die Metrik der Odenform. Gleiche oder zumindest ähnliche Formulierungen oder Verse finden sich in beiden Varianten, allerdings an unterschiedlichen Stellen, respektive in unterschiedlichen Kombinationen. Doux matou tout roux durchlief diverse Bearbeitungsstadien. Bei einer flüchtigen Lektüre bestünde sogar die Gefahr, dass man die beiden Fassungen kaum als ein und dasselbe Gedicht identifizieren würde. Erst bei näherer Betrachtung lassen sich die Gemeinsamkeiten und die Metamorphosen erkennen.
Anne Manternach