Nur selten veranschaulicht ein Schriftstück die Übergänge und Berührungsstellen zwischen der Lebenswelt und den Brettern, die die Welt bedeuten, mit solcher Eindringlichkeit wie das beiliegend abgebildete Konzeptblatt aus der ehemaligen Registratur des Kasemattentheaters. Während die untere Partie des Dokuments die Vorbereitungen des Hauses zur Feier seines 25jährigen Bestehens ankündigt, teilen die oberen, durchgestrichenen Zeilen das Ableben eines Weggefährten der ersten Stunde mit: Georges Ourth.
Heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein des Großherzogtums verschwunden, ist Ourth wesentlich an dem Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Prozess der inhaltlichen und ästhetischen Erneuerung sowie Professionalisierung der Luxemburger Theaterlandschaft beteiligt. Nach dem überwältigenden Eindruck der Lektüre von Goethes Faust beschließt der 1942 in Esch/Alzette geborene Gymnasiast, Schauspieler zu werden und fasst eine entsprechende Ausbildung ins Auge – in Wien, eine der maßgeblichen Drehscheiben des deutschsprachigen Theaters. 1963 erwirbt er am Horak-Konservatorium das Schauspieldiplom und wird sogleich an das Volkstheater, dann an das renommierte Burgtheater verpflichtet. Bereits im nachfolgenden Jahr verlässt er jedoch die österreichische Metropole, um in Luxemburg seinen Militärdienst zu leisten. Da er aber von den üblichen Aufgaben freigestellt werden kann, spricht er, möglicherweise nach dem Vorbild seines in Ost-Berlin tätigen Landsmanns und Schauspielerkollegen Joseph Noerden, am Nationaltheater Weimar vor – eigentümlicherweise als Soldat eines NATO-Mitgliedstaates im Geltungsbereich des Warschauer Paktes. Unmittelbar vor der Aufnahme seiner Tätigkeit an diesem untrennbar mit der Person Goethes verbundenen Ort gründet er an der Seite von Tun Deutsch und einiger anderer Gleichgesinnten Ende 1964 das Centre grand-ducal d’art dramatique, nach seiner damaligen Spielstätte besser bekannt unter dem Namen Kasemattentheater.
Parallel zu seiner Arbeit in Weimar sowie später am Theater Meiningen, an den Vereinigten Bühnen Graz, am Nationaltheater Mannheim sowie schließlich am Landestheater Salzburg, wirkt Ourth nunmehr als Schauspieler und Regisseur an zahlreichen Produktionen des Kasemattentheaters, z.B. Der Abstecher von Martin Walser (1969), Die Hundeblume von Wolfgang Borchert (1971), Tafelbild von Ingmar Bergman (1974), Emigranten von Slawomir Mrozek (1975), Mann ist Mann von Bertolt Brecht (1976) oder In der Strafkolonie von Franz Kafka (1979). Sie stellen eindrucksvoll den Willen der Einrichtung zu einem kompromisslos zeitgenössischen Theater abseits der bisherigen, häufig schematisierten Darstellungspraktiken und Sehgewohnheiten unter Beweis. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der von Ourth in die Wege geleiteten, von der lokalen Presse anerkennend kommentierten Aufführung der Emigranten an der Elisabethbühne Salzburg im Januar 1976 zu, die erfolgreich die Tourneetätigkeit des Kasemattentheaters im deutschsprachigen Raum begründet. 1972 übernimmt Ourth neben seiner Arbeit am Landestheater die künstlerische Leitung der Elisabethbühne, die er vom halbprofessionellen Kellertheater zur größten unabhängigen Bühne Österreichs mit angegliederter Schauspielschule aufbaut. Die enge Verbindung zum Luxemburger Theaterbetrieb bricht indes nicht ab: So gehört Ourths vielbeachtete Inszenierung von Faust I zu den ersten Aufführungen im neueröffneten Kapuzinertheater (1985); ihr werden viele weitere Gastauftritte der Elisabethbühne folgen.
Im Mai 1988, am Vorabend des 25. Gründungsjubiläums des Kasemattentheaters, verstirbt Georges Ourth nach schwerer Krankheit im Alter von erst 46 Jahren; kurze Zeit vorher hatte sein Namensvetter, der Theaterwissenschaftler Georges Banu, eine grundlegende Studie mit dem Titel L’Acteur qui ne revient pas (1986) veröffentlicht. Die Endgültigkeit des „Abgangs hinter die Kulissen, von wo niemand […] wiederkehrt“, erhält im Lichte dieser Biographie eine zusätzliche Deutungsdimension. Als Renate Rustler-Ourth im September 2017 den Nachlass ihres Ehemannes dem Lëtzebuerger Literaturarchiv anvertraut, verharrt der Schauspieler weiterhin jenseits der Kulissen; ein Stück Luxemburger Kulturerbe kehrt hingegen wieder heim.
Daniela Lieb