Rolph Ketter (1938-2008) hat im Alter von 14 Jahren begonnen, Tagebuch zu führen und Zeit seines Lebens nicht mehr damit aufgehört. Im Bestand (L-71) des CNL befinden sich rund 30 – zwischen 1962 und 2008 verfasste – Tagebücher, die der gebürtige Düdelinger verfasst hat. Für Rolph Ketter bedeutet das Tagebuchschreiben nicht einfach nur das Niederschreiben seines Tagesablaufs und seiner Gedanken, sondern irgendwie auch Therapie: »[D]och wird der Hauptgrund wohl die verkrampfte Bewegung des Suchenden sein, der keine Handhabe am Wirklichen hat und davon träumt, aus dieser zweiten Welt, die der Worte, genügend Kraft zu ziehen, damit die alltägliche lebbar wird.« (CNL L-71; III.1.4)
Schreiben ist für Rolph Ketter existentiell: Er braucht seine Tagebücher, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen; so helfen seine Texte ihm, pessimistische, manchmal gar depressive Gedanken zu formulieren; die Tagebücher sind aber auch in Momenten des Hochgefühls geschrieben und mit Liebesbekundungen durchzogen. Neben dem herkömmlichen Gebrauch von Tagebüchern, etwa dem Festhalten von Geschehenem, Beobachtetem und Gefühlswelten, sind für Rolph Ketter Tagebücher auch ein Ort der Reflexion. Er denkt sprichwörtlich über Gott und die Welt nach und schreibt auf, wie er die Menschen, sein Umfeld und das Leben empfindet. Dementsprechend finden sich in seinen Tagebüchern zahlreiche Kunstbetrachtungen, Überlegungen zur Kultur und Kritiken zu Personen wieder. Auch ist in Rolph Ketters Tagbüchern Platz für Zitate und neu Gelerntes, wobei ihm unter anderem Lacan und Arno Schmidt als Vorbilder dienen.
Einige seiner Tagebücher sind mit »Tage- und Materialbuch« betitelt. Dies liegt daran, dass er in seinen Tagebüchern oft ganze Romane entwirft, Ideen skizziert, Zitate aufschreibt und sich Notizen zu Struktur, Symbolik und Figuren macht. Diese Vermischung aus Tagebuch und Romanprojekt, Realität und Fiktion, ist in dem Sinne folgerichtig, als sein Schreiben stark autobiographisch ist. So bekennt er im Text In einem kleinen Land: »[D]ein Ich wird niemals zum Er, du schaffst es einfach nicht, auf Distanz zu gehen zu deiner Erlebniswelt, dem Kokon, in dem du eingeschlossen bist, ohne Hoffnung, jemals zum frei fliegenden Schmetterling zu werden.« (S. 20) Seine Tagebücher dienen ihm sozusagen als Steinbruch für seine Literatur. Die meisten Texte, die Rolph Ketter im Laufe seines Lebens publiziert, verstehen sich so auch nicht ausschließlich als Fiktionen, sondern sind Auszüge aus seinen Tage- und Notizbüchern. Journal eines jungen Narren besteht beispielsweise aus Aufzeichnungen von 1960 bis 1968. Obwohl Ketter einige Romanprojekte detailliert geplant und auch erste Entwürfe in »Tage- und Materialbüchern« festgehalten hatte, ist kaum einer dieser Romane je veröffentlicht worden.
Das älteste Tagebuch von Rolph Ketter, das sich im Bestand des CNL befindet, stammt aus dem Jahre 1962. Tagebücher aus der Zeit davor sind nicht überliefert. Stattdessen existiert eine umfassende Briefsammlung, die auf die Zeit zwischen 1959 und 1968 zurückgeht und zahlreiche Briefe von Rolph Ketter an seine Familie und seine Geliebte, Lou, enthält. Inhaltlich ähneln die Briefe seinen Tagebüchern. Er beschreibt darin seinen Alltag, reflektiert und berichtet von dem, was er liest, beobachtet und denkt. Lediglich der Ton in den Briefen variiert leicht von dem in den Tagebüchern. Die Briefe sind an Personen gerichtet, die ihm vertraut sind, weswegen er in einem persönlichen, manchmal verspielten und manchmal ernsten Ton schreibt. Außerdem erkundigt er sich nach seinen Briefpartnern und schmiedet Pläne mit ihnen. Das Tagebuch hingegen ist in erster Linie an sich selbst gerichtet, so dass ein persönlicher Bezug auf andere außen vor bleibt.
Da Tagebücher zu den persönlichsten Lebensdokumenten gehören und geradezu intim sind, ist eine Einsicht ohne vorherige Erlaubnis der Rechteverwalter nicht möglich.
Lia Blum