Die Bestände des Centre national de littérature umfassen neben zahlreichen Personen- und Institutionenarchiven unterschiedliche Spezialsammlungen, darunter eine Musikalienkollektion, die mittlerweile Werke von rund 180 luxemburgischen und ausländischen Komponisten vereint. Überdies enthält sie eine Reihe von historischen Konzertprogrammen, die das Luxemburger Musikleben des vergangenen Jahrhunderts schlaglichtartig beleuchten. Am 15. und 16. Mai 1948 ist das Großherzogtum Gastgeber des 3. Kongresses der Fédération Internationale des Jeunesses Musicales, einer im Befreiungsjahr 1945 mit dem Ziel gegründeten Vereinigung, die musikalische Erziehung von Kindern und Jugendlichen sowie ihre grenzüberschreitende Verständigung mittels dieser universellen Sprache zu fördern. Als Rahmenprogramm wird der interessierten Öffentlichkeit eine Anzahl hochkarätiger Musikveranstaltungen angeboten; ein am 15. Mai im Cercle Municipal stattfindendes Konzert des Rundfunk-Orchesters unter der Leitung von Henri Pensis (1900-1958), bei dem mit Georges Enesco einer der weltweit bekanntesten Musiker seiner Generation auftritt, gilt dabei als besonderer Höhepunkt.
Geboren 1881 in Liveni, einem Dorf im äußersten Nordosten Rumäniens, zeichnet sich Enesco seit frühester Kindheit durch herausragendes musikalisches Talent aus. 1888-1894 absolviert er Studien am Konservatorium Wien, wo er als erst 12-jähriger Geigenvirtuose Publikum und Kritik gleichermaßen begeistert. Daran schließt sich ein Studienaufenthalt am Conservatoire de Paris an; hier erfolgt 1898 mit dem Poème Roumain auch sein Debüt als Komponist. Die Jahrzehnte bis nach Ende des 2. Weltkriegs verbringt Enesco als Interpret, Gastdirigent und Musikpädagoge – Yehudi Menuhin (1916-1999) wird sein prominentester Schüler sein – zwischen Bukarest, Paris und zunehmend den nordamerikanischen Metropolen. Die Errichtung der kommunistischen Diktatur in seiner Heimat veranlasst ihn, sich mit seiner Ehefrau, der Prinzessin Maria (Maruca) Cantacuzino (1878-1969), dauerhaft in Frankreich niederzulassen. Er stirbt 1955 in Paris. Die Kompositionen Enescos sind fest in der rumänischen Folklore verankert, die er sich jedoch unter französischem und deutschem akademischem Einfluss auf zutiefst persönliche Weise aneignet. Das Resultat dieser technischen, geistigen und ästhetischen Synthese zwischen ost- und westeuropäischen Musiktraditionen ist ein in hohem Maße originelles, weitangelegtes lyrisches Werk von verhaltener, jedoch umso anspruchsvollerer Modernität. Es umfasst Klavierstücke, Kammermusik, Orchesterwerke – Rhapsodien, Suiten, Symphonien – sowie Vokalmusik, darunter die Oper Oedipe.
Nach aktuellem Quellenstand reichen die Kontakte Enescos nach Luxemburg bis in die frühen 1930-er Jahre zurück. Im Dezember 1932 gibt er ein Matineekonzert im Festsaal des Cercle. Im März 1936 spielt das unter der Leitung von Pensis stehende Rundfunk-Orchester ein Rumänisches Konzert, bei dem Enescos Rhapsodie Roumaine zur Aufführung gelangt; bei dieser Gelegenheit führt er vor dem Mikrofon des Radio-Luxemburg ein Gespräch mit dem französischen Komponisten Louis Aubert (1877-1968). Am 15. Mai 1948 interpretiert Enesco unter dem Dirigentenstab Pensis' das Violinkonzert in E-Dur von J.S. Bach und dirigiert anschließend mit der II. Orchestersuite eine Eigenkreation. Presseberichten zufolge reagiert das Publikum mit „uneingedämmtem Applaus“. Die Identität der Widmungsträgerin lässt sich nicht eindeutig klären, jedoch ist es nicht undenkbar, dass es sich dabei um die Pädagogin, Autorin und Frauenrechtlerin Henriette Clement-Besseling (1891-1958) handelt.
(Daniela Lieb)