Das vorgestellte Archivdokument, welches durch seine tabellarische Gliederung besticht, stammt vom deutschen Schriftsteller Dietlof Reiche. Es besteht aus vergilbten, brüchigen, zusammengeklebten Blättern. Ausgeklappt hat das Dokument insgesamt eine Höhe von 74 cm sowie eine Breite von 29,6 cm. Der Plan bildete vermutlich die wichtigste Arbeitsgrundlage für Reiches ersten Roman Der Bleisiegelfälscher (1977).
Der Roman berichtet von den schweren Lebensumständen der Lodenweber um 1613 in der Freien Reichsstadt Nördlingen. Zum Überleben mussten die Handwerker mehr weben als es die gültige, jedoch veraltete, Zunftordnung gestattete. Die zusätzlichen Stoffe konnten nur mit gefälschten Siegeln verkauft werden. Um Angst unter den Nördlinger Webern zu verbreiten sowie den Eindruck eines harten Durchgreifens gegen Fälschungen außerhalb der Stadtmauer zu vermitteln, statuiert der Rat ein grausames Exempel an Meister Kratzer, einem der Protagonisten des Romans. Der Bleisiegelfälscher wurde mit dem Oldenburger Jugendbuchpreis (1977) sowie mit dem deutschen Jugendliteraturpreis (1978) ausgezeichnet.
Als Leser kann man sich nur bedingt vorstellen, wie wichtig es für den Autor ist, den Handlungsablauf sowie sonstige Details beim Verfassen eines Romans ständig vor Augen zu haben. Der Plan mit seinen vielen Kategorien (unter anderem: „Ort“, „Zeit“, „Personen“, „Inhalt“, „Aufbau“, „worauf Vorbereitung?“) gibt auf anschauliche Weise Aufschluss über die Arbeitsweise des Autors. Die Kästchen, die teilweise mit Bleistift, teilweise mit Farben oder Kugelschreiber markiert, ergänzt oder wieder durchgestrichen wurden, lassen erahnen, welch hohe Aufmerksamkeit der Autor aufbringen musste, um ja nichts durcheinander zu bringen. Als Kinder- und Jugendbuchautor weiß Reiche, der sich das Handwerk des Schriftstellers selbst angeeignet hat, dass auch jungen Lesern etwaige Ungereimtheiten in der Erzählstruktur auffallen würden. Außerdem zeichnet er sich als jemand aus, der stets um sorgfältig recherchierte Hintergrundinformation bemüht ist.
Seit über zehn Jahren lädt das Luxemburger Literaturarchiv zusammen mit mehreren Partnern einen deutschsprachigen Autor zur Kinder- und Jugendbuchautorenresidenz „Struwwelpippi kommt zur Springprozession“ nach Echternach ein. Nach erfolgreicher Bewerbung weilte Reiche dort während des Frühjahrs 2008. Er nahm am kulturellen Leben der Stadt teil und gab jungen Menschen Einblick in sein Schreiben. Zum Abschied schenkte er dem Literaturarchiv den Plan des Bleisiegelfälschers. Für das Literaturarchiv, dessen Sammlung mittlerweile eine beachtliche Zahl Bestände und Einzelautographen zählt, hat dieses Dokument durch seine oben beschriebene Einzigartigkeit und Authentizität einen besonderen Wert.
Charlotte Ziger
Dietlof Reiche - Struwwelpippi 2008