Ihre erste öffentliche Dichterlesung führte die am 1. März 2023 verstorbene Anise Koltz 1960 ins rheinland-pfälzische Meisenheim am Glan, wo sie u.a. die beiden niederländischen Autoren Willem Enzinck und Ben van Eijsselsteijn kennenlernte. Als Koltz 1962 zusammen mit dem Deutschen Horst Bingel und dem Luxemburger Nic Weber die Mondorfer Dichtertage ins Leben rief, erinnerte sie sich der Freunde, denen sie in Meisenheim begegnet war und lud sie ins Luxemburger Thermalbad ein. Willem Enzinck wurde gelegentlich sogar als »Mitgründer« (Die Warte, 11.03.1964, S. 2) bezeichnet, da er bei den Überlegungen, die im Vorfeld der ersten Mondorfer Dichtertage angestellt wurden, eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Die mit Van Eijsselsteijn geschlossene Freundschaft, die sich auch in ihrem Briefwechsel zeigt, sorgte dafür, dass Anise Koltz 1963 und 1966 in Den Haag aus ihren Werken las.
Im Laufe der Jahre bemühte Anise Koltz sich auch um weitere niederländische Autoren wie z. B. Gerrit Kouwenaar, Hans Andreus, Remco Campert und Lucebert, die alle der experimentellen Künstler- und Autorengruppe De Vijftigers angehörten und die für die literaturästhetischen und -theoretischen Grundsatzdebatten zweifellos eine Bereicherung gewesen wären. Doch da Mondorf nicht den Ruf genoss, ein Forum für avantgardistische Literatur zu sein, folgten diese großen Namen der zeitgenössischen niederländischen Literatur den Einladungen nicht.
Als 1995, nach mehr als zwanzig Jahren Pause, die Mondorfer Dichtertage neu aufgelegt wurden, lud man aus den Niederlanden Cees Nooteboom und Judith Herzberg ein. Während Nooteboom absagte, sicherte Herzberg frühzeitig ihr Kommen zu. Die Autorin, Stückeschreiberin und Übersetzerin (*1934), die 1963 mit dem Lyrikband Zeepost debütiert hatte, las sowohl am Freitagabend bei den Lectures à la carte in der Suite des poètes des Domaine thermal als auch am Samstagabend bei der Grande soirée dîner-lecture in den Räumlichkeiten des Casino 2000.
In der Anthologie, die repräsentative Lyrik und Prosa der Mondorf-Teilnehmer enthält, ist Herzberg mit den Gedichten Liedje und Bezet gebied vertreten, denen eine von der Autorin angefertigte Übersetzung ins Deutsche (Lied / Besetztes Gebiet) beigegeben ist. In Liedje variiert die Dichterin das Motiv der Lüge, die immer – in der Liebe, in der Gefahr, in der Krankheit und im Sterben – vernichtender sei als die blanke Wahrheit. Und in Bezet gebied thematisiert sie den Kontrast zwischen einer pompösen Siedlung in Beton und der ursprünglichen Landschaft, die den neuen Bauten weichen musste. Trotz der Beteuerung zum Schluss – »Ik heb het niet /over politiek / ik heb het over gebaren« (V. 35-37) [in Herzbergs Übersetzung: Ich rede nicht / von Politik / ich rede von Stil] – kann man das Gedicht der politisch engagierten Herzberg, die ihr Leben zwischen Amsterdam und Jerusalem teilt, nicht zuletzt wegen seines Titels als eine Reflexion über die israelisch-palästinensische Realität im Gazastreifen lesen. Von ihr stammt der ›Poesie-Fächer‹ aus Bambus und Papier, den sie Anise Koltz 1995 zur Erinnerung schenkte und bei dem es sich um eine limitierte Sonderauflage des Amsterdamer Verlags Thomas Rap handelt. Das mittels Siebdrucktechnik aufgedruckte Gedicht Er is nog zomer, das auch vertont wurde, wirft einen ironischen Blick auf das Wunschdenken von einer idealen Welt, in der sich alle Menschen ›menschlich‹ verhalten:
Er is nog zomer en genoeg wat zou het lood tillen zijn wat een gezwoeg als iedereen niet iedereen terwille was als iedereen niet iedereen op handen droeg |
Es ist noch Sommer, und zwar genug zwaar was wäre es sehr schwerzunehmen, was für eine Plackerei wenn nicht jeder jedem gefällig sei wenn nicht jeder jeden auf Händen trüge |
Text und Übersetzung Jeff Schmitz
Illustration:
Judith Herzberg: Er is nog zomer… Fächer mit aufgedrucktem Gedicht. Uitgave Thomas Rap Amsterdam: [1992]. CNL, Bestand Anise Koltz, L-42. Foto: Maïté Baumbach.