Objet du mois, juillet 2022

En attendant l’objet

Zur ersten Produktion des Théâtre du Centaure

Die unverwechselbare Kleinbühne im Herzen der Luxemburger Altstadt geht auf eine von Philippe Noesen, ehemaligem Mitglied der prestigeträchtigen Comédie française, geleitete Theaterwerkstatt zurück. Im Juni 1972 konkretisiert sich die intensive Arbeit der kleinen Gruppe engagierter Theaterschaffenden in der Inszenierung der Groteske Les Bâtisseurs d’empire (dt. Die Reichserbauer) von Boris Vian (1957, Uraufführung 1959 am Pariser Théâtre Récamier). Keine Geringere als Ursula Kübler, die Witwe des Autors, wohnt der Premiere am Centre culturel français bei. In einem Interview mit dem Schriftsteller Joseph Paul Schneider bescheinigt sie Noesen, in Anbetracht knapper Mittel und des teilweise noch unerfahrenen Ensembles »un petit miracle« vollbracht zu haben.

 

Les Bâtisseurs dʼempire setzt sich in verklausulierter Form mit der Krise der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich zurzeit des Algerienkrieges auseinander. Eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Tochter und Kindermädchen, zieht auf der Flucht vor einem geheimnisvoll-bedrohlichen Geräusch in immer höher gelegene, immer kleiner werdende Wohnungen ein. Darin finden sie stets auch Schmürz (eine Verfremdung des deutschen Wortes ›Schmerz‹) vor, eine menschenähnliche, in Bandagen eingewickelte Gestalt, die sie bei jeder Gelegenheit treten und schlagen – die vermutlich bekannteste Figur des dramatischen Werkes Vians. Die Wahl des Stückes belegt die bis heute anhaltende Präferenz des Centaure für zeitgenössische Theaterliteratur in französischer Sprache, die überdies oft sozial brisante Inhalte wie Krieg, sexualisierte Gewalt, Arbeitslosigkeit oder Drogenkonsum behandelt. Bereits 1974 wendet sich die Truppe mit der Inszenierung von Edmond Dunes Drama Le Puits de Fuentes, das am 12. Januar 1974 am Escher Theater Premiere feiert, auch Luxemburger Theaterautoren zu. Die Zusammenarbeit mit Vertretern der einheimischen Theaterliteratur, unter ihnen Guy und Nico Helminger, Roger Manderscheid, Ed Marold, Guy Rewenig und Jemp Schuster, entwickelt sich zu einer Konstante der Spielplangestaltung; die Produktion der Stücke Erop von Romain Butti und Moi, je suis Rosa! von Nathalie Ronvaux während der Saison 2021-2022 setzt diese mittlerweile fast fünfzigjährige Tradition fort.

 

Anlässlich seines 15. Gründungsjubiläums nimmt das Centaure Les Bâtisseurs d’empire 1989 wieder in den Spielplan auf. Teil der neuen Besetzung ist die junge Myriam Müller in der Rolle der Zénobie, der Tochter der Familie, die als einzige ihre Teilnahme an der Misshandlung Schmürzʼ verweigert und stattdessen mit ihm in Kontakt zu treten versucht. Drei Jahre später verlässt Noesen das Kellergewölbe ›am Dierfgen‹, um die Direktion des Escher Theaters zu übernehmen. Künstlerische Leiterin des Centaure wird Marja-Leena Junker, die in dieser Funktion bis 2015 verbleibt. In ihre Amtszeit fallen 2004-2005 umfangreiche Umbau- und Renovierungsarbeiten des Saales, der u. a. mit neuer Belichtung und Bestuhlung ausgestattet wird. Als sie 2015 in den Ruhesstand tritt, geht die Leitung des Hauses an Myriam Müller über.

 

Seit 2011 werden aus dem Centaure stammende Theatralia, darunter zahlreiche Fotografien, im Centre national de littérature konserviert. Während der Nacht vom 14.-15. Juli 2021, als neben anderen Merscher Gebäulichkeiten auch das CNL von der Überschwemmung betroffen wird, dringt Wasser in den der theaterwissenschaftlichen Sammlung vorbehaltenen Raum ein und erreicht dort eine Höhe von 1,5 Meter. Die nass gewordenen Archivalien werden geborgen, tiefgefroren und nach Leipzig ins Zentrum für Buchrestauration verbracht. Unter diesen Materialien befindet sich ein Inszenierungsfoto, das die fünfköpfige Besetzung der Bâtisseurs d’empire zeigt. Dabei handelt es sich nicht nur um das einzige überlieferte Dokument im Kontext dieser Produktion, sondern zugleich um das älteste Archivale aus dem Besitz des Theaterhauses. Die Rückkehr des restaurierten Objekts ins CNL ist für Oktober dieses Jahres vorgesehen.     

 

   Daniela Lieb

 

 

Weiterführend:

Fabienne Gilbertz: Wortproduzenten. Literarische und ökonomische Professionalisierung im Luxemburger Literatursystem der 1960er und 1970er Jahre. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019, bes. S. 269-293.

Nathalie Jacoby: Nom Waasser. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Mois des archives 2022, Centre national de littérature, 20. Juni 2022. 

Zum letzten Mal aktualisiert am