Joseph-Émile Muller, Leiter des Service des Beaux-Arts im Nationalmuseum für Kunst und Geschichte, stellte der Öffentlichkeit über Jahrzehnte als Vortragsredner und Kunstbuchautor bedeutende Luxemburger Maler wie Joseph Kutter und Lucien Wercollier vor. In seiner Jugend galt sein Interesse jedoch zunächst der Literatur. Auf Troisième entdeckte er den Dichter Rainer Maria Rilke für sich und machte bald eigene Schreibversuche. In den 1930er und 1940er Jahren veröffentlichte Muller deutsche Gedichte in den Cahiers luxembourgeois. 1929 plante er sogar eine eigene, landesübergreifende Literaturzeitschrift, Den Fergen, für die er Kontakte zu deutschen Autoren wie Fritz Diettrich und Martin Raschke aufnahm. Obwohl Der Ferge es nie bis zur ersten Ausgabe schaffte, hielt Muller die Kontakte zur deutschen und luxemburgischen Literaturszene aufrecht.
Während der Planungsphase zum Fergen war Muller gerade mal 18 Jahre alt. Im Frühjahr 1929 hatte er die Schule verlassen und war in den Staatsdienst eingetreten. Die Arbeit auf dem Amt für Rentenversicherung passionierte ihn jedoch nicht sonderlich und in seiner Freizeit widmete er sich weiterhin der Literatur. In seiner Autobiographie Erst im Schatten, dann im Licht schreibt Müller 1999: "Nach dem Abendessen gehörte ich mir: ich saß in meinem Zimmer und las oder schrieb." (S. 25)
Nach Mullers Tod 1999 gaben seine Erben dessen unveröffentlichten Gedichte zusammen mit weiteren Dokumenten aus dem Nachlass des Autors ins Luxemburger Literaturarchiv, wo sie sich heute unter der Signatur L-188; I.2-1 befinden. Auf der vergilbten Mappe hat Muller mit Bleistift notiert: "Erste Arbeiten (Gedichte). 1918- Unter verschiedenen Pseudonymen: Kurt Reinoldt, Helmut Gunter, Helmut Kuno Berk." Die Themen sind vielfältig: Liebesgedichte sind ebenso darunter wie Momentaufnahmen aus dem Alltag, lyrische Gedanken zu Leben und Vergänglichkeit, Elegien und Psalmen; der Stil variert zwischen erhaben-romantisch und versonnen-verklärt.
Eines der Gedichte trägt den Titel Lichtreklamen. Die Elektrifizierung des städtischen Raumes bot der Werbung nach dem Ersten Weltkrieg ähnlich revolutionäre Möglichkeiten wie heute das Internet. Der Erzähler erscheint zunächst ehrfürchtig-erstaunt über die Errungenschaften der Technik, doch wenn "der Strom verlischt" ist es gut, dass es neben diesen künstlichen auch natürliche Sterne gibt, auch wenn der Mensch, das "himmelsüchtige Geschlecht", dies gerne vergisst. Thema und Stil verorten das Werk eindeutig im Expressionismus.
Unter dem Gedicht befindet sich eine unsignierte Kritik des Textes. Muller schreibt in seiner Autobiographie, der Schriftsteller und Gymnasiallehrer Paul Henkes habe einige seiner Gedichte gelesen und ihm einen "zu sichtbare[n] Rilke-Einfluss vorgeworfen" (S. 21). Der Handschrift nach zu schließen handelt es sich hier nicht um Henkes, doch auch dieser Kritiker bemerkt: "Rilke und Kästner liegen sich in den Haaren". Ein interessantes Jugendwerk, das eine Facette des Kunstkritikers Muller zeigt, die viele noch nicht kennen.
Sandra Schmit